Wir begegnen uns. Jeden Tag. Mal treffen wir auf Menschen, die uns ein Lächeln schenken, mal auf andere, die gedankenversunken und ins Weite blickend an uns vorübergehen. Mal verändert eine Begegnung unser Leben, mal einfach den Moment. Begegnungen sind der Ursprung aller Lebensgeschichten, sind Lebenselixier in unserer Welt. Begegnung ist Klang, Duft, Berührung, Aufmerksamkeit, bedeutet Lachen, Weinen, Singen, Genießen, Erzählen, Austauschen und Teilen.
Der figure humaine kammerchor sucht solche Begegnung: er steht für deutsch-französische Freundschaft, auch weil er immer wieder in Frankreich konzertiert und Teile des Ensembles aus Frankreich stammen. Darüber hinaus sorgt er durch die Aufführung deutscher und französischer Werke in jedem Konzert für einen Austausch, bei dem die Musik spricht. Dass einem großen Publikum dadurch – neben CD- und Notenveröffentlichungen – die Welt der französischen Mélodies eröffnet wird, ist eine Besonderheit: die Bearbeitungen für gemischten Chor und Klavier von Denis Rouger beleuchten sie aus vielen Perspektiven.
Zum Gedenken seines 100. Todestages ist dieses Konzert Gabriel Fauré gewidmet: mehr als 100 Mélodies schrieb er innerhalb von 60 Jahren und war auf seine Weise Vermittler und Ermöglicher von Begegnungen. So lässt Fauré Musik und Sprache mithilfe seiner speziellen Tonalität verschmelzen und verbindet weltliche und kirchliche Musik. Auch schuf er Raum für deutschfranzösische Begegnung, indem er beispielsweise Stücke von Robert Schumann studierte und unterrichtete, deren Sensibilität und Zerbrechlichkeit ihn ansprachen. Dies wurde u.a. seiner Schülerin Nadia Boulanger zuteil, die wiederum Faurés Werk tradierte. Durch seine behutsame, noch tonale Erweiterung des musikalischen Horizonts des 19. Jahrhunderts, das in Frankreich von Saint-Saens und Gounod geprägt worden war, wird er Türöffner für die großen Impressionisten Debussy und Ravel.
Am heutigen Abend hören Sie von Begegnungen in allerlei Facetten:
Notre amour erzählt die Geschichte zweier Verliebter, beschreibt mit Naturbildern die Unfassbarkeit von Liebe: zauberhaft, leicht, heilig, unendlich und ewig. Genauso schwerelos ist auch die Musik, die die Sorglosigkeit der beiden widerspiegelt. Eine verspielte Melodie wird weich in Alt- und Basslinien gebettet, bevor sie sich in ewige himmlische Höhen schwingt.
Ebenfalls zwei Liebende sitzen Au bord de l’eau und vergessen die Welt, sogar die Natur liegt unter einem verträumten Schleier: der Bach fließt, die Wolken gleiten dahin, wie auch einzelne Chorstimmen immer wieder schweigen, voraus- oder nachklingen, als würde die Zeit durch die Hände rinnen.
En prière spricht den Wunsch nach der Begegnung mit Gott aus: nach oben gerichtete Arpeggien scheinen das Gebet zum Himmel zu tragen, und als der oder die Betende verspricht, das Leben für Gott zu geben, verbinden sich „Mensch" und „Gott“ mit zwei entgegenkommenden Linien in dramatisch gewichtigen Vierteln.
Im Ave verum verwandelte Denis Rouger die begleitende Orgelstimme in einen Chor. Für den Abschluss seines Studiums an der Kirchenmusikschule Ecole Niedermeyer in Paris komponierte Gabriel Fauré den berühmten Cantique de Jean Racine: nacheinander setzen die Stimmen ein, von der tiefsten bis zur höchsten, und besingen einen Treueschwur, der nach und nach die matten Seelen weckt und die Stille der Nacht aufbricht, auf dass das Gebet die göttliche Gnade erwirke.
Ein Bach und eine einsame Blume begegnen sich in Le ruisseau: am liebsten will er sie mitreißen, doch sie bleibt an ihrem Ort, sodass der Bach traurig seinem Lauf folgt, der in der wellenförmigen Klavierstimme hörbar gemacht wird, die einen Frauenchor begleitet. Wofür dieses Bild wohl stehen mag?
Henri Duparc legt in seinen Chanson triste tiefe Trauer und Schmerz, lässt aber trotzdem verborgenen Glanz und Schimmern aufleuchten. Für die beinahe irren Gedanken über den unerfüllten Wunsch nach Begegnung vermischen sich die Chorstimmen, scheren textlich aus und scheinen verrückt geworden; erst als die Geliebte die Ballade über sie singt, beruhigen sie sich. Jedoch steht am Ende die Einsamkeit: das Klavier schließt allein, indem es das zuvor gesungene Motiv „et dans tes yeux plein de tristesse“/„und deine Augen sind voller Traurigkeit“ wiederholt. Auch in Verborgenheit bleibt das lyrische Ich allein. Jedoch ist es hier sein ausdrücklicher Wunsch, niemandem zu begegnen: „Laß, o Welt, o laß mich sein!“ Es dreht sich, von Melancholie und Weltschmerz erfasst im Kreis, lebt „immerdar“ in unerklärlicher Trauer. Nur ab und zu scheint die Sonne die Tränenschleier zu durchbrechen – mit Frauenstimmen und in immer höher steigenden Achtelakkorden im Klavier.
Robert Schumann lässt in den folgenden beiden Werken nicht nur zwei Chöre aufeinander treffen, sondern „Welten“. An die Sterne richtet sich die Sehnsucht nach einem fernen, besseren Leben: herabschauende Geister tauchen unvermittelt in den einzelnen Stimmen der beiden Chöre auf, nachdem zuvor ein weiter Nachthimmel in Homophonie aufgespannt wurde. Ein Gedicht aus Goethes „Westöstlichen Divan“ vertont Schumann mit Talismane. Goethe selbst tritt als Reisender auf, der den Orient kennenlernt und ihm unbekannten Kulturen begegnet. Die Musik ist lebendig und temporeich, die beiden Chöre wechseln sich ab und malen damit ein Bild wie von zwei Himmelsrichtungen, Nord und Süd – oder West und Ost. Das Stück endet mit der Aufforderung, Gott zu danken: so folgt in unserem Programm ein Loblied nach Psalm 113, Lobet den Herrn, von Denis Rouger.
O bone Jesu wurde im Stile einiger Kapellmeister der Pariser Pfarrkirche La Madeleine geschrieben: eine einzigartige Begegnung von Camille Saint-Saens, Gabriel Fauré und Philippe Mazé. In Hymne à la vierge treffen wir auf Maria, wie auch in Nadia Boulangers Cantique. Die 2. Strophe wurde hierfür von Rouger im Stile Maurice Maeterlincks, der wichtiger Zeitgenosse Boulangers war, gedichtet: Maria verspricht, die „irdisch“ Liebenden „himmlisch“ zu begleiten.
Ein im Winter 1914/15, wenige Monate nach Ausbruch des 1. Weltkriegs, entstandenes Stück ist Trois beaux oiseaux: Maurice Ravel vertont eine der schlimmsten und eine der schönsten Begegnungen unter Menschen: Krieg und Liebe. Ein Mädchen sieht drei Vögel aus dem Paradies vorüberfliegen, einen blauen, einen weißen und einen roten. Es sind die Farben der Trikolore, die sie daran erinnern, dass ihr Freund für Frankreich in den Krieg gezogen ist. Ein klagender Solosopran singt ein volkstümlich anmutendes, schlichtes Lied, das von Chorakkorden begleitet wird. Nacheinander fragt sie die Vögel, was sie ihr mitbringen. Jeder antwortet mit einer anderen Solostimme: der rote Vogel bringt das Herz des Geliebten, worauf das Mädchen erstarrt und ihn bittet, auch ihr Herz mitzunehmen. Wie eine Erlösung wirkt daraufhin L’aurore, ein großer Gesang auf den anbrechenden Morgen.
In einem Schreittanz, einer Pavane, auf einem Maskenball begegnen sich die Menschen mit Masken und choreographierten Tanzschritten auf künstliche Weise. Faurés Pavane ist ursprünglich instrumental gedacht, Text samt Chorstimmen wurden später hinzugefügt. Auf Basis von Faurés Klavierauszug und diversen überlieferten Orchesterfassungen haben die Pianistin Kathrin Schweizer und Denis Rouger das Stück neu ediert.
Der Glanz einer Begegnung mit einer gottgleichen Person strahlt am Ende des Konzerts in Hymne. „Salut en immortalité“/„Ein Hoch auf die Unsterblichkeit“ klingt wie ein Freudenjubel und soll uns Mut machen, auf lebensverändernde, erleuchtende Begegnungen zu hoffen, die wiederum uns fröhlich unseren Mitmenschen begegnen lassen.
Anne Weißert